Sprach- und Integrationskurs lehren nicht nur die Sprache, sondern sie vermitteln auch die Art und Weise, wie die Gesellschaft gesehen, gelesen und verstanden werden kann. Das geschieht mit jedem Bild, in jedem Dialog und in jeder Aufgabe. Wir prägen dadurch implizit – wie beim Modelllernen – Normen und Werte, Rollenvorstellungen und Handlungsmuster. Diese zugrunde liegenden Vorstellungen werden allerdings nur selten explizit thematisiert. Da wir immer Normen und Werte vermitteln, ist es umso wichtiger, sensibel für diese zugrunde liegenden Werte zu sein, sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen und reflektiert und bewusst den Unterricht zu gestalten.
- Doch welche Normen und Werte werden in den Aufgaben im Handlungsfeld Gesundheit und in anderen Handlungsfeldern vermittelt?
- Wie werden Menschen dargestellt?
- Möchte ich diese Rollenvorstellungen und Verhaltensmuster lehren oder kritisieren?
- Wie gehe ich auf kulturelle Vorstellungen ein?
- Sind die Aufgaben befähigend?
- Und wie kann ich die Ressourcen der Teilnehmer*innen einbeziehen und sie in ihrer Fähigkeit zu transferieren unterstützen?
Auf dieser Seite laden wir Sie ein, sich kritisch mit den in den Lehrwerken vermittelten Normen auseinanderzusetzen und Ihre eigene Einstellung dazu zu reflektieren. Zudem finden Sie zahlreiche Anregungen, wie Sie Aufgaben entwickeln können, die bewusst die Fähigkeiten der TN verbessern und diese empowern.
Diversity-sensibel?
Menschen aber auch ihre präferierten Lebensweisen und ihre Lebensbedingungen sind sehr vielfältig. Um über andere und uns zu sprechen, nutzen wir häufig Vereinfachungen und Unterscheidungsmerkmale. Manche der Unterscheidungen wie z. B. Mensch mit und ohne Migrationshintergrund sind uns sehr vertraut. Oft geht die Differenzierung zwischen Menschen auch mit Bewertung und Diskriminierung einher: Dies wird in ‘Bildern’ sichtbar, wie die Abwertung einer geringverdienenden zugewanderten Frau oder einem vermeintlich schlecht integrierten, gewaltbereiten zugewanderten Jugendlichen. Aber oft werden Menschen nicht nur anhand eines einzigen Kriteriums voneinander unterschieden, sondern anhand mehrerer, die auch mehrfache Diskriminierung einschließen. Bspw. ist die zugewanderte Frau nicht nur aufgrund ihres Migrationshintergrunds oder ihres Frauseins diskriminiert, sondern auch wegen ihrer ökonomischen Stellung in der Gesellschaft. All diese Diskriminierungen sind nicht vom Individuum verursacht und nur teilweise beeinflusst, sie wirken sich aber sehr belastend und gesundheitsbeeinträchtigend aus. Ein Verständnis für mögliche Diskriminierungen, die in einer Gesellschaft existieren und Ideen, wie man damit gut umgehen kann, hilft gesund zu bleiben und stärkt die einzelnen.
Die Betrachtung von mehreren Kriterien bei der Erklärung von Ungleichheiten wird im Ansatz der Intersektionalität aufgegriffen. Er erlaubt nicht nur ein einziges Kriterium z. B. die nationale Herkunft zu betrachten, sondern sich den vielen existierenden Differenzlinien und deren Zusammenspiel bewusst und dadurch auch beeinflussbar zu machen.
In Sprach- und Integrationskursen wird neben der Herkunftssprache und der vorherigen Bildung häufig implizit auf Kultur als eine Erklärung zurückgegriffen. Dabei ist es jedoch wichtig zu wissen, was unter Kultur verstanden wird. Allgemein gilt, dass Differenzen (und Kulturen) an verschiedenen Merkmalen beschrieben werden: sowohl den äußerlichen (Aussehen, Sprache, Kunst, Tanz etc.), aber auch innerlichen (Wertesysteme, Präferenzen etc.). Rasch tendieren Menschen dazu, andere Menschen und ihre Kultur als homogen zu betrachten. Dabei übersehen wir zugleich die Diversität im Leben anderer Menschen. Allein in der ‘deutschen’ Kultur gibt es unzählige Subkulturen (z. B. Jugendkultur, Organisationskultur etc.). Auch aus dem eigenen Leben kennen wir, dass wir uns bspw. im beruflichen und privaten Leben anders verhalten und andere Normen gelten. Dies veranschaulicht, dass nicht eine andere Herkunft zu haben als einziges Merkmal zur Beschreibung und Erklärung ausreicht, sondern unser ganzes Leben von Diversität (auch in Bezug auf präferierte Normen) durchzogen ist und so auch das Leben unserer Teilnehmer*innen.
Doch woran erkennen wir die vermittelten Inhalte, Rollenbilder und Verhaltensmuster und Differenzen und Bevorzugung/ Benachteiligung? Hier finden Sie einige Fragen, die Ihnen helfen können, die Inhalte und Materialien Ihres eigenen Unterrichts zu reflektieren.
Hierbei hilft die Unterteilung in Was wird gezeigt? Wie wird es bewertet und welche Entwicklungsmöglichkeiten existieren?
- Was wird gezeigt?
- Personen:
- Welche Personen werden auf Bilder gezeigt und welche nicht?
- Geschlecht, Alter, Nationalität, Bildungshintergrund, Religion, sexuelle Orientierung
- Wie ist die äußere Erscheinung – Kleidung, Haarstyle, Schmuck, Körperhaltung?
- Wird die Person nur allein dargestellt oder als Teil einer sozialen Gruppe (Familie, Freundeskreis …)?
- Name:
- Aus welchen Regionen der Welt werden Namen gezeigt?
- Werden die Protagonisten nur mit Namen, die in Deutschland häufig vorkommen, benannt oder auch mit Namen, die häufig in anderen Ländern anzutreffen sind?
- Sprache:
- Wird nur das Sprechen in deutscher Sprache erlaubt?
- Werden andere Sprachen eingebunden? Und wenn ja, wie: zum Lernen des Wortschatzes, zur Vermittlung im Alltag?
- Gibt es Situationen, in denen – z. B. bei der inhaltlichen Besprechung von Themen – eine Sprachmischung oder Translanguaging stattfindet?
- Eigenschaften
- Welche Eigenschaften werden einzelnen Personen zugeschrieben? Sind diese Stereotyp oder divers?
- kulturelle Präferenzen/Lebensarten/Lebensweisen:
- Werden nur ‘deutsche’ kulturelle Präferenzen gezeigt?
- Werden verschiedene kulturelle Präferenzen gezeigt
- Rolle: In welcher Rolle/Handlung werden sie gezeigt? (aktiv, passiv, kritisch)
- Werden gängige Rollenbilder abgebildet oder durchkreuzt?
- Gibt es Protagonisten, mit denen sich die TN identifizieren können?
- Handeln die Protagonisten, wie es die Rolle vorsieht (funktional)?
- Werden eigene Besonderheiten sichtbar?
- Abläufe
- Werden nur ‘normale’ Handlungsabläufe vorgegeben?
- Ist Entwicklung sichtbar?
- Können die Protagonisten aktiv beim Geschehen partizipieren?
- Können die Protagonisten das Geschehen aktiv verändern?
- Wie wird mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden umgegangen?
- Personen:
- Wie wird mit vielfältigen (kulturellen) Lebensformen/Lebensweisen umgegangen?
- Clisché denken:
- Erwähnung:
- Werden nur ‘deutsche’ kulturelle Präferenzen gezeigt?
- Werden verschiedene kulturelle Präferenzen gezeigt
- Präsentation:
- Wird nur die (vermeintlich) deutsche Kultur präsentiert? (Wird diese als anderen Kulturen überlegen dargestellt? Wird nur eine Kultur als einseitig oder divers präsentiert? Werden verschiedene Situationen und die darin gängige Verhaltensweisen gezeigt, z. B. Pünktlichkeit beim offiziellen vs. inoffiziellen Termin?)
- Wertung:
- Wird abschätzend oder wertschätzend mit der Kultur im Herkunftsland umgegangen?
- Ansprache:
- Wie werden die TN eingeladen über ihr Herkunftsland zu sprechen? “In Ihrem Heimatland?”, “In Ihrem Land?” “Wie ist das bei Ihnen?” oder “und Sie, was denken Sie?”
- Selbstausdruck
- Werden Personen eingeladen, ihre eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen oder nur das Bestehende wiederzugeben?
- Werden Lebensgeschichten – auch über den Umgang beim Einleben in das neue Land – angeboten?
- Werden andere Differenzlinien als ‘Herkunft’ aufgegriffen und wenn ja, wie?
(Kulturelle) Normen-bewusst?
Gesundheit und Gesundheitsverhalten ist von unserer kulturellen Prägung und den verfügbaren Angeboten bestimmt, aber auch von den Vorstellungen darüber, was gut oder schlecht bzw. was richtig oder falsch ist. Diese vereinfachte Einteilung in richtig und falsch hilft, um Beurteilungen auszusprechen. Sie ist allerdings sehr verkürzt und halten einem umfassenden Verständnis von Gesundheit nicht stand, bzw. werden der Komplexität der Thematik nicht gerecht.
Ein Beispiel: Wie ist das Rauchverhalten einer zugewanderten Frau zu deuten? Rauchen per se ist schlecht für den Körper (körperliche Dimension von Gesundheit). Zugleich hilft es der Frau, um zu entspannen (psychische Dimension von Gesundheit) und dadurch auf ihre Kinder aufmerksamer und liebevoller eingehen (soziale Dimension von Gesundheit), aber auch die sehr belastenden Lebenssituation besser bewältigen zu können.
Unsere Vorstellung von Gesundheit und Gesundheitshandeln ist sehr stark von richtig und falsch beeinflusst. Ebenso bringen unsere Teilnehmer*innen ihre eigenen Ideen mit. Oft treten diese Vorstellungen auch in Sprach- und Integrationskursen in Erscheinung (z.B. nicht so viel Süßes essen, weniger Brot, …). Doch wie können Sprach- und Integrationskursleiter*innen damit umgehen und auf diese verschiedenen Ansprüche eingehen?
Grundlegend gibt es drei Varianten, damit umzugehen:
- diese zu ignorieren,
- die eigene Meinung stark zu vertreten und
- die Aufmerksamkeit weniger auf den Inhalt, sondern die erfolgreiche Kommunikation verschiedener Standpunkte und das Verstehen können anderer Standpunkte zu richten.
Da Sprach- und Integrationskurse keine Angebote der Gesundheitsbildung sind, gilt es primär die Kommunikationsfertigkeiten zu erweitern. Hierbei ist es hilfreich, den Kriterien, die von der VHS für Gesundheitsbildungsangeboten festgelegt sind, einen Blick zu würdigen: Therapieverbot, kein Heilversprechen etc. (VHS o. J.).
Reflexionsfragen
Woran kann ich erkennen, dass etwas einseitig/divers ist?
- Wie werden Gesundheitstipps vermittelt?
- Anweisung ‚du sollst‘ oder Empfehlung ‚du könntest‘?
- “Das ist gesund”, “Das ist ungesund”
- Mit oder ohne Begründung?
- Wer gibt Empfehlungen ab?
- Wie viele Meinungen werden vertreten?
- Nur eine Meinung, mehrere, verschiedene?
- Wie verhalten sich die Akteur*innen bezogen auf die Einstellungen?
- Bejahen sie sie? Kritisieren sie sie? Diskutieren sie sie?
- Wird es einseitig dargestellt?
- Werden Teilnehmer eingeladen, über das Gesagte nachzudenken und es zu kritisieren?
Vernetzen fördern?
Das Leben von zugewanderten Menschen ist sehr stark von Handlungen des Vernetzen in Form von Verknüpfung von zweier Sprachenmiteinander (Translanguaging), der Verknüpfung von verschiedenen Kulturen (ggf. Transculturing), der Verknüpfung von verschiedenen Ressourcen aber auch der Sprach- und Kultur-Mittlung gekennzeichnet.
Mediation ist die Vermittlung zwischen Sprachfertigkeiten und kann im Allgemeinsten Sinne als das Vermitteln bzw. Transferieren zwischen verschiedenen Dingen verstanden werden. Dies kann sich sowohl auf das Vermitteln zwischen Sprachen als auch Sprechfertigkeiten, sprachlichen Registern und verschiedenen Kulturen und Wertvorstellungen beziehen. Zugleich kann es sich auch auf die Gestaltung von etwas Neuem und dem erfolgreichen Erreichen der eigenen Ziele durch die Kombination aller verfügbaren Ressourcen handeln. Einige Beispiele aus dem Alltag:
- Kontinuierlichen transferieren wir Informationen von mündlich zu schriftlich und andersherum. (‘Mediation’ nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen)
- Wir transferieren Informationen von einer höflichen, offiziellen Sprechweise hin zu privater Konversation (Transfer zwischen verschiedenen sprachlichen Registern)
- (Viele) Zugewanderte Menschen transferieren Inhalte zwischen verschiedenen Sprachen (u. a. trans-languag-ing)
- Zugewanderte Menschen transferieren zwischen verschiedenen Kulturen und Weltvorstellungen (trans-cultur-ing)
- aber sie transferieren auch ihre Ressourcen vom Gebrauch in einem Kontext in einen neuen Kontext, um Problem und Aufgaben zu lösen. (trans-asset-ing)
All diese Transferleistungen sind beeindruckend und weisen auf wertvolle Fähigkeiten hin. Oftmals sind sich zugewanderte Menschen ihrer vielen Ressourcen und Transferleistungen nicht bewusst und betrachten sich als defizitär. Um zugewanderte Menschen darin zu unterstützen, ein hoffnungsvolles, selbstbestimmtes, gutes Leben in Deutschland führen zu können, gilt es, sie in dem Prozess zu begleiten, ihre eigenen Ressourcen und Fähigkeiten zu entdecken, gezielt einzusetzen und auszubauen. Dies kann sich auch positiv auf den Aufbau einer integrierten Identität auswirken.
Reflexionsfragen
- Wo beobachte ich Transferleistungen meiner TN?
- Wodurch fördere ich bewusst die Fähigkeit zum Transferieren der TN (z. B. Translanguaging, Transculturing, Transasseting,)
- Welche Vorbehalte habe ich vor Mehrsprachigkeit und des Einbezugs der Kompetenzen der TN?
- Wie fördere ich den Transfer der erworbenen Kompetenzen in den Alltag?
- Wie unterstütze ich den Transfer des Wissens in die Community?
Empowernd?
Erwachsenenbildung, wie sie in Sprach- und Integrationskursen stattfindet, kann verschiedene Funktionen erfüllen. Von funktional Qualifizierend bis hin zu empowernd. Unser vertretenes Verständnis von Gesundheitskompetenz steht in der Tradition der Ottawa-Charter, die auf das Empowerment des Individuums abzielt, sodass er/sie sich für seine/ihre Gesundheit einsetzen kann. Die Ansätze des Empowerments in der Erwachsenenbildung/Grundbildung gehen auf Paulo Freire zurück, der in seinen Alphabetisierungsprogrammen die Prinzipien des kritischen Mitdenkens, sich Einmischen und die aktive Teilhabe an der gesellschaftlichen Situation verfolgte.
Damit zugewanderte Menschen gut in Deutschland leben können und sich – gemäß der Charter der Menschenrechte und des Grundgesetzes – für ihre Anliegen einsetzen können, sind Bestrebungen des Empowerments fundamental.
- Welche Rollen üben die TN in den Rollenspielen ein?
- Werden die TN befähigt, ihre eigene Lebenssituation kritisch zu beschreiben, zu analysieren und zu bewerten?
- Gibt es Aktivitäten, die die TN ermutigen, sich über ihr eigenes Leben und ihre Erfahrungen in Deutschland mündlich oder schriftlich auszudrücken? Werden diese Erzählungen von anderen gehört und im Unterricht aufgegriffen?
- Welche Möglichkeiten der Partizipation und Mitbestimmung haben die TN in der Kursgestaltung?
Quelle:
VHS (o.J.): Gesundheitsbildung in Volkshochschulen
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